Offener Brief zum Verfahren gegen den ehem. SS-Angehörigen Hubert Z. in Neubrandenburg

Seit Februar 2016 soll sich Hubert Zafke, der 1944 als SS-Sanitäter im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz Dienst tat, vor Gericht verantworten. Ihm wird Beihilfe zum Mord in mindestens 3.681 Fällen vorgeworfen. (Quelle: Context. Bausteine für historische und politische Bildung)

 

Im vergangenen Jahr wurde im mecklenburgischen Neubrandenburg der Prozess gegen einen ehemaligen SS-Mann des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau eröffnet. Es wird einer der letzten Auschwitz-Prozesse sein. Doch statt durch Aufklärung und späte Gerechtigkeit macht das Verfahren bisher mit Skandalmeldungen auf sich aufmerksam: Die Richter scheint vor allem der Gesundheitszustand des Angeklagten umzutreiben. Angehörige von Ermordeten wurden als Nebenkläger ausgeschlossen, Auschwitz-Überlebende nicht als Zeugen vorgesehen. Wir fordern, dass die Verantwortung des Angeklagten und das historische Geschehen zum Gegenstand eines unverzüglich neu eröffneten Hauptverfahrens wird.

Sehr geehrte Richter, sehr geehrte Richterin,

sehr geehrte Schöffen der Schwurgerichtskammer beim Landgericht Neubrandenburg,

bereits am 23. Februar 2015 hat die Staatsanwaltschaft Schwerin Anklage gegen Hubert Zafke wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 3.681 Fällen erhoben. Doch mehr als zwei Jahre später ist noch immer kein Urteil in Sicht. Als SS-Sanitäter soll Zafke vom 15. August bis zum 14. September 1944 die arbeitsteilige Ermordung von Männern, Frauen und Kindern aus ganz Europa in Auschwitz-Birkenau unterstützt haben. In einem der mindestens 14 Deportationszüge, die das Vernichtungslager während seiner Dienstzeit erreichten, war auch Anne Frank mit ihrer Familie. Nach der Ankunft wurden die Gefangenen auf der Rampe selektiert; Kinder, Alte und Kranke unmittelbar in den Gaskammern ermordet. Nun droht der Prozess gegen einen der wenigen noch lebenden ehemaligen SS-Männer, die daran mitwirkten, zu scheitern. Doch vergleichbare Prozesse in Lüneburg und Detmold haben uns gezeigt, dass es möglich ist, unter Berücksichtigung der eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten in wenigen Monaten zu einem Urteil zu kommen.

Was hat Hubert Zafke, der auch in Dachau, Neuengamme, Sachsenhausen und Groß-Rosen eingesetzt war, als Sanitätsdienstgrad und Angehöriger der SS-Sanitätsstaffel im KZ Auschwitz-Birkenau getan, gehört und gesehen? Was weiß er über sogenannte SS-Sanitäter zu berichten, die kranken Häftlingen tödliche Injektionen verabreichten und Zyklon B in die Gaskammern schütteten? Darauf etwa könnte der Prozess in Neubrandenburg Antworten geben. Doch nicht die Verbrechen, ausschließlich die Gebrechen des Angeklagten standen bisher im Fokus des Verfahrens. Dass sich ein hochbetagter Mann für Jahrzehnte zurückliegende Taten vor Gericht verantworten soll, mag vielleicht schwer zu vermitteln sein. Aber auch die Überlebenden von Auschwitz sind heute alt und gebrechlich. Ihnen, denen Gerechtigkeit so lange versagt blieb, gilt unser Mitgefühl.

Auschwitz war eine Mordfabrik. Das konnte Hubert Zafke beim Anblick der ausgezehrten Häftlinge, der Gaskammern und Krematorien nicht verborgen geblieben sein. Er musste wissen, dass er durch seine Tätigkeiten im Lager den Massenmord unterstützte. Die geschichtsrelativierende Behauptung seines Verteidigers, die Taten wären vergleichbar mit jenen von 80 Millionen Deutschen im „Dritten Reich“, weisen wir aufs Schärfste zurück. Ebenso ist das Verfahren gegen Zafke weder „peinlich“, noch erwartet ihn ein „Schauprozess“ oder gar ein „Todesurteil“, wie sein Anwalt beim Prozessauftakt behauptete. Wir treten für ein faires, rechtsstaatliches Verfahren ein und missbilligen jeden Versuch, aus Tätern Opfer zu machen.

Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte. Und wer mitgemacht hat, hat sich wegen Beihilfe zum Mord strafbar gemacht.“ Diese von Nebenklage-Anwälten vertretene Rechtsauffassung hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 20. September letzten Jahres höchstrichterlich bestätigt. Mord verjährt nicht, darauf hat sich die Bundesrepublik vor Jahrzehnten verständigt, um nationalsozialistische Mordtaten nicht ungestraft zu lassen. Das Alter des Beschuldigten kann kein absolutes Verfahrenshindernis sein. Verfahren gegen NS-Täter und -Täterinnen müssen zügig und mit Hochdruck geführt werden. Doch in Neubrandenburg ist das Gegenteil der Fall. Der Prozess wurde immer wieder verschleppt und ausgesetzt. Die Hauptverhandlung kam erst im Februar 2016 auf Anordnung des Oberlandesgerichts zustande und hat an nur wenigen Tagen stattgefunden. Das Landgericht Neubrandenburg erweckte den Eindruck, keinerlei Interesse an der Strafverfolgung zu haben. Die durch ein fachpsychiatrisches Gutachten festgestellte Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten wurde erneut infrage gestellt. Über die Verlesung der Anklageschrift kam das Verfahren nicht hinaus. Weder hat sich der Angeklagte bisher zu den Tatvorwürfen geäußert, noch wurden Beweise erhoben. Die Nebenklage und sogar die Staatsanwaltschaft stellten mehrere Befangenheitsanträge gegen Sie als Richter und Richterin der Schwurgerichtskammer. Da über diese nicht fristgerecht entschieden wurde, muss die Verhandlung neu beginnen. Ein Termin wurde nicht bestimmt. Neuerliche Untersuchungen zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten dauern an.

Uns empört Ihr unwürdiger Umgang mit den Nebenklägern. Dieser gipfelte in dem Versuch, die Holocaust-Überlebenden Walter und William Plywaski, deren Mutter in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde, vom Verfahren auszuschließen – zum wiederholten Mal und, wie das Oberlandesgericht Rostock feststellte, ausdrücklich widerrechtlich. Seit Verfahrensbeginn werden die Rechte der Nebenkläger missachtet, ihnen Informationen vorenthalten, ihre Befangenheitsanträge weggewischt. Da die Kammer sich geweigert hatte, eine Reise nach Colorado (USA) zu genehmigen, hatte Walter Plywaski bisher nie die Möglichkeit von Angesicht zu Angesicht mit seinem Anwalt zu sprechen. Stattdessen empfahl die Schwurgerichtskammer dem mittlerweile 88-jährigen Holocaust-Überlebenden eine Skype-Konferenz mit seinem Anwalt abzuhalten. Von Gerichtsbeschlüssen erfahren Anwalt und Mandant mitunter nur aus der Presse. Für Walter Plywaski wurde der Prozess zu einer Tortur. Und nicht nur bei ihm als Prozessbeteiligten hinterlässt das Auftreten des Gerichts Spuren. Von einem „Alptraum für die Überlebenden von Auschwitz“ sprach das Internationale Auschwitz Komitee im September 2016. Dass ihnen ein deutsches Gericht über 70 Jahre nach dem Holocaust mit solcher Ignoranz und Ablehnung begegnen würde, hielten sie nicht für möglich.

Es ist Ihnen offenbar nicht klar, dass Sie in der internationalen Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass Sie das Verfahren aus politischen oder anderen Gründen unbedingt verhindern oder sabotieren wollen. Sie verkennen die Brisanz Ihres Handelns und führen die jahrzehntelange weitgehende Nichtverfolgung von mutmaßlichen NS-Tätern ein weiteres Mal fort.

Mit diesem Brief rufen wir dazu auf, dafür zu sorgen, dass endlich und unverzüglich verhandelt wird. Die Hoffnung, dass in diesem Verfahren noch ein Urteil gesprochen wird und den Opfern und ihren Angehörigen damit ein Stück weit Gerechtigkeit zuteil wird, geben wir nicht auf.

Hochachtungsvoll

Roman Guski,

Context. Bausteine für historische und politische Bildung e.V.

Dr. Constanze Jaiser,

Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V.

_____
Erstunterzeichner_innen des Offenen Briefes:

Katja Anders,

Erziehungswissenschaftlerin, Berlin

Esther Bejarano,

Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e.V.

Alyn Beßmann,

Kulturwissenschaftlerin, Hamburg

Prof. Mira Reym Binford,

Professor Emerita of Communications, Adj. Prof. of Media/Holocaust Studies, Quinnipiac University (Hamden/USA)

Sandra Brenner,

Zeitwerk – Beratungsstelle für lokale Jugendgeschichtsarbeit im Landesjugendring Brandenburg e.V.

Prof. Grace Caporino,

Professor of Holocaust Literature, Purchase College (Purchase/USA)

Christiane Chodinski, Georg Chodinski, Ilse Jacob

Landesverband der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Hamburg

Batsheva Dagan,

Überlebende von Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Malchow (Holon/Israel)

Bernadette Dewald,

Obfrau der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück & FreundInnen (Wien/Österreich)

Dr. Simone Erpel, Dr. Matthias Heyl, Charlotte Meiwes,

Vorstand der Dr. Hildegard Hansche Stiftung

Dr. Thomas Gabelin,

Vorstandsmitglied der Child Survivors Deutschland e.V. – Überlebende Kinder der Shoah

Dr. Detlef Garbe,

Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Marco Gutewort,

Stellvertretender Vorsitzender des Fördervereins Schloss und Gedenkstätte Lichtenburg e.V.

Christian Hartz, Elke Nolze, Christoph Speier, Aline Zieher,

Vorstand der Kurt und Herma Römer Stiftung

Brita Heinrichs,

Jugend für Dora e.V.

Margrit Hille,

Lesbenberatung Berlin e.V. / LesMigraS

Dr. Natalja Jeske,

Historikerin, Rostock

Thomas Käpernick,

Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V.

Prof. Dr. Pegelow Kaplan,

Direktor des Center for Judaic, Holocaust, and Peace Studies, Appalachian State University (North Carolina, USA)

Martin Klähn,

Pädagogischer Leiter von Politische Memoriale e.V.

Beate Klarsfeld,

Fils et Filles des Déportés Juifs de France (Paris/Frankreich)

Dr. Ines Lasch,

Slawistin, Hamburg

Prof. Kevin Lewis,

Distinguished Emeritus Professor of Religious Studies, University of South Carolina (Columbia/USA)

Dr. phil. habil. Alf Lüdtke,

Honorarprofessor an der Universität Erfurt

Dr. Ulrike Marz,

Vorsitzende der LOBBI e.V. – Landesweite Opferberatung, Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in M-V

Birgit Marzinka, Ingolf Seidel,

Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V.

Ulrike Maschner, Stefanie Oster,

Context. Bausteine für historische und politische Bildung e.V.

Dr. Henry Miller,

Sohn von Überlebenden, sein Vater war Auschwitz-Überlebender (Columbia/USA)

Minda Miller,

Vorsitzende der The Selden K. Smith Foundation for Holocaust Education (Columbia/USA)

Katja Müller,

Historikerin, Berlin

Prof. Dr. Andreas Nachama,

Historiker und Publizist, Berlin

Prof. Dr. Andrea Nachtigall,

Fachbereich Sozialwesen, Ernst-Abbe-Hochschule Jena

Helga Radau,

Vorsitzende des Fördervereins Dokumentations- und Begegnungsstätte Barth e.V.

Dr. Jost Rebentisch,

Geschäftsführer des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte e.V.

Dr. Michael A. Riff,

Direktor des Gross Center for Holocaust & Genocide Studies, Ramapo College (New Jersey/USA)

Lea Rosh,

Vorsitzende des Förderkreises Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V.

Dr. Harry Schulz,

Historiker, Neubrandenburg

Horst Selbiger,

Ehrenvorsitzender der Child Survivors Deutschland e.V. – Überlebende Kinder der Shoah

Brigitte Triems,

Vorsitzende des Demokratischen Frauenbund e.V.

Nadia Ufimtseva,

Euro-Asian Jewish Congress (Kyiv/Ukraine)

Christian Utpatel,

Geschäftsführer der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) M-V

Lukas Welz,

Vorsitzender von AMCHA Deutschland e.V. – Israelisches Zentrum für psychosoziale Hilfe für Überlebende des Holocaust

Prof. Dr. Michael Wildt,

Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Dr. Bill Younglove,

California State University (Long Beach/USA)

Lisa Marie Zinßer,

Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (AKJ) Greifswald

Unterschreibt auch ihr die Petition! Klickt dazu hier.