Der Mythos Demmin

Als die Rote Armee am 30. April 1945 vor der Stadt Demmin stand, waren die Nazi-Kader und die Wehrmachtseinheiten schon lange geflohen, dennoch wurden vorher die Brücken nach Demmin gesprengt, um den unaufhaltsamen Vormarsch der Roten Armee wenigstens zu verlangsamen. Der Befehl lautete schließlich auch hier, die Stadt bis auf den letzten Mann zu verteidigen.

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Bereits vor der Machtübergabe an die Nazis 1933 war Demmin eine Hochburg der NSDAP. Und so war es auch 1945 noch. Obwohl eine weiße Fahne am Kirchturm die Kapitulation der Stadt anzeigte und obwohl den Stadtoberen von der Roten Armee im Vorfeld zugesichert wurde, die Stadt nicht zu plündern, wurden die sowjetischen Parlamentäre, die über die Übergabe Demmins verhandeln wollten, erschossen.In der Treptower Straße schoss der Lehrer Moldenhauer auf eine Gruppe Rotgardisten – aus dem Luisentor feuerte eine Gruppe um den Drogeristen Christian Österlin ebenfalls auf sowjetische Soldaten. An diesem ersten Tag wurden insgesamt 17 Rotarmisten erschossen.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges häuften sich – wie auch in anderen ostdeutschen Städten – in Demmin die Selbstmorde in der deutschen Bevölkerung. Besonders betroffen waren Menschen und deren Familien, die im Nazi-Reich höhere Positionen inne hatten. So brachten sich zum Beispiel der Haupttruppführer im Reichsarbeitsdienst, der Geschäftsführer einer Krankenkasse, ein Polizeihauptwachtmeister und ein Oberleutnant um.

Neonazis, die heute regelmäßig die Selbstmorde für ihre neofaschistische Propaganda instrumentalisieren behaupten, 1000, ja fast 2000 Menschen hätten sich in Demmin umgebracht. Tatsächlich waren es etwa 500 bis 600 Demminer*innen, die den Freitod wählten. Genau ist die Zahl bis heute nicht geklärt. Die Angst, die sowjetischen Soldaten würden den Deutschen auch nur ansatzweise das antuhen, was diese jahrelang anderen Menschen angetan hatten, überwältigte die sonst allzu von sich überzeugten Herrenmenschen offenbar geradezu. Angebliche Massenvergewaltigungen und Massenhinrichtungen von deutschen Soldaten taten ihr Übriges, um die deutsche Bevölkerung in hysterische Verzweiflung zu versetzen. Die Anzahl der Vergewaltigungen wurden von der NS-Führung regelmäßig hochgeschraubt – oft einfach verzehnfacht – und in den Folgejahren von der bürgerlichen Geschichtsschreibung, ohne zu hinterfragen, übernommen. Bürgerliche Medien wollen die Suizide gerne in das Licht der Verzweiflung rücken. Als eine „kollektive Flucht vor der sowjetischen Besatzung“, also als einen Ausweg aus diesem zwar von den Deutschen mit all seinem Leid verursachten, aber dann doch nicht länger ertragbaren Krieg, wird der Selbstmord Vieler verharmlost. So perfide diese Mache scheint, so gewollt ist sie scheinbar. Auch weit ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges will mensch in der Öffentlichkeit offenbar weder die genauen Ursachen für das Ermöglichen der KZs und der verbrecherischen Angriffskriege gegen unzählige Nachbarstaaten und deren Bewohner*innen, noch die Auswirkungen der NS-Tyrannei erforschen. Als „i“-Tüpfelchen wird das angeblich barbarische Verhalten der sowjetischen Truppen genannt, frei nach dem Motto: „Da konnten sich die Deutschen ja nur umbringen.“ Eine Geschichtsvergessenheit, die mittel und langfristig nur den „neuen“ Nazis in die Hände spielt.

Eigentlich wollten sich die sowjetischen Verbände gar nicht lange in Demmin aufhalten, sondern nach Rostock weiterziehen. Aber die zerstörten Brücken zwangen sie zum ausharren. Dennoch zogen Truppen der Roten Armee bereits am ersten Mai mit Hilfe einer provisorischen Brücke über Peene in die Stadt ein. Das Luisentor, an dem tags zuvor noch auf Rotarmisten geschossen wurde brannte, ebenso einige andere Gebäude. Die Beherrschtheit der sowjetischen Truppen schwand nach den sinnlosen Morden am Vortag. Die Apothekerin der Stadt lud dennoch die Führungsoffiziere des sowjetischen Truppenteils zu einer Siegesfeier ein und vergiftete dabei alle Rotarmisten, die an diesem Treffen teilnahmen und sich selbst. Als Reaktion auf diese und weitere Vorfälle entschlossen sich die neuen Kommandeure für ein rigoroses Vorgehen gegen die Stadt. Häuser wurden in Brand gesetzt, mit den verbliebenen Nazi-Schergen und ihren Sympathisant*innen wurde nicht mehr zimperlich umgegangen. Noch nach einigen Tagen brannten Teile der Stadt.

Nur wenige Tage nach dem Eintreffen der ersten sowjetischen Truppen vor Demmin, war der Krieg für die Nazis und ihre Mitläufer*innen auch schon verloren. Am achten Mai unterzeichneten die deutschen Generale Wilhelm Keitel, Hans-Georg von Friedeburg und Hans-Jürgen Stumpff die Kapitulationsurkunde aller Wehrmachtsteile. Das Erschießen von 17 Rotarmisten, sowie der feige Mord an den Offizieren, war also mehr als sinnlos. Der Stadt wäre sicher auch die Brandschatzung erspart geblieben, hätten die Demminer*innen die Rote Armee einfach passieren lassen. So wurde der „Endkampf“ um Demmin zu einem Symbol für die Idiotie des „Durchhaltens“ der deutschen Bevölkerung und des ganzen Zweiten Weltkrieges überhaupt.