Die Reichspogromnacht: Vorläufiger Höhepunkt faschistischer Judenverfolgung

Vor 80 Jahren brannten im Deutschen Reich die Synagogen, Jüd*innen wurden zu hunderten ermordet oder in den Freitod getrieben, zehntausende in Konzentrationslager verschleppt. Obwohl das Dritte Reich im Mai 1945 defacto aufhörte zu existieren, lebt die menschenverachtende Ideologie der Nazis bis heute weiter.

Von Franziska Wilke und Julian Feller

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 entlud sich der Rassenwahn der Faschisten in einem staatlich organisierten Pogrom bis dahin nicht gekannten Ausmaßes, welches sich gegen Jüdinnen und Juden richtete. Im Rahmen des äußerst brutalen Vorgehens von Mitgliedern der Nazipartei und ihrer SA-Schlägertruppe und unter den Augen eines johlenden und Beifalls bekundenden Mobs wurden Synagogen in Brand gesetzt und mehr als 7.000 Geschäfte und Wohnungen jüdischer Besitzer zerstört und geplündert. Der faschistische Mob hetzte jüdischstämmige Menschen durch die Straßen, prügelte auf sie ein und ermordete – offiziellen Zahlen zufolge – mindestens 91 Menschen. Wie viele Jüdinnen und Juden bei den landesweit stattfindenden Po­gromen insgesamt verletzt wurden, ist nicht bekannt. Jedoch wurden nicht wenige Opfer nach der öffentlichen Menschenjagd von der Polizei festgenommen. Rund 30.000 Menschen wurden im Anschluss an das Pogrom in sogenannte Konzentrationslager verschleppt. [1]

Lange ging man davon aus, dass während der Pogrome nur „wenige“ Hundert starben. Professor Meier Schwarz vom „Synagogue Memorial“ arbeitete das Thema vor gut zehn Jahren noch einmal auf und kam zu einem deutlich anderen Ergebnis: Insgesamt 1300 bis 1500 Menschen fielen seiner Forschung nach den Pogromen zum Opfer. Nicht beachtet seien zuvor etwa Suizide in Folge der traumatisierenden Ereignisse geblieben. Zudem seien über 1400 Synagogen niedergebrannt oder vollständig zerstört worden. 30.000 Juden seien in den Tagen nach dem 9. November in Konzentrationslager verschleppt worden. [2]

Attentat als Vorwand für Pogrome

Am 3. November erfuhr der in Paris lebende siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan, dass auch seine ganze Familie nach Zbąszyń vertrieben worden war. Er besorgte sich einen Revolver und schoss damit am 7. November 1938 in der Deutschen Botschaft auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath. Dieser erlag am 9. November seinen Verletzungen. [3]

Das Pogrom wurde am Abend des alljährlichen Treffens der NSDAP-Führerschaft anlässlich des gescheiterten Hitler-Putsches am 9. November 1923 nach Zustimmung Hitlers von Propagandaminister Josef Goebbels durch eine Hetzrede ausgelöst. Goebbels verwies auf die bereits stattgefundenen Pogrome in Kurhessen und Madgeburg-Anhalt und machte die Bemerkung, dass die Partei antijüdische Aktionen zwar nicht organisieren, aber auch nicht behindern werde. Anschließend gaben die SA-Führer von München aus telefonisch entsprechende Befehle an ihre Stäbe und Mannschaften durch. [4]

Der Terror der Pogromnacht wurde fortgesetzt durch Verordnungen, die den Juden auferlegten, eine „Sühneleistung“ in Höhe von eine Milliarde Mark an das Deutsche Reich zu zahlen, alle Schäden sofort selbst zu beheben, die Kosten für die Wiederherstellung selbst aufzubringen und die von den Versicherungen gezahlten Entschädigungen an das Reich abzuführen. Außerdem wurde die „Arisierung“ aller jüdischen Unternehmen und Betriebe angeordnet und damit alle Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben ausgeschaltet. [5]

In der Bundesrepublik war der Holocaust bis zum Ende der 1950er Jahre kaum Thema. Erst seit den späten 1960er Jahren befasste sich die westdeutsche Öffentlichkeit intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus und der Frage der Verantwortung. Statt des euphemistischen Begriffs „Reichskristallnacht“, der während der nationalsozialistischen Herrschaft geprägt wurde und lange auch in der westdeutschen Erinnerungskultur Verwendung fand, wird heute der Begriff „Reichspogromnacht“ verwendet. [6]

Alten und Neuen Nazis bekämpfen

Am 9. November vor neuem Antisemitismus zu warnen klingt wie ein Klischee, wie die hohle Ansage politischer Routine. Selbst mit allerbester Absicht ist es schwer, am 9. November der Ereignisse zu gedenken, die als Konsequenz zur Folge hatten, sich der schlimmsten Grausamkeiten der modernen Geschichte gegenwärtig zu werden. [7]

Dass sich Neofaschisten aktuell selbstsicher genug fühlen, um ihre antisemitische Hetze unumwunden öffentlich zu propagieren, dürfte auch mit dem anhaltenden gesellschaftlichen Rechtsruck zu erklären sein, der seit Jahren europaweit stattfindet. Bereits am vergangenen Montag waren etwa rund 200 Anhänger der Partei „Der III. Weg“, ausgestattet mit Fackeln, durch Plauen marschiert und hatten sich damit den 80. Jahrestag der ersten Deportationen von Juden aus der sächsischen Kleinstadt ausgewählt. Rund 500 Menschen protestierten gegen den antisemitischen Spuk. Und im ostsächsischen Os­tritz, wo sich am vergangenen Freitag und Samstag insgesamt 3.000 Bürgerinnen und Bürger aus Protest gegen das dort stattfindende „Schild und Schwert“-Festival von knapp 700 Neonazis an einem Friedensfest beteiligt hatten, kam es zu Straftaten der Rechten. So unterbrach die Polizei in der Nacht zu Sonnabend eines der Konzerte, da eine Band „strafrechtlich Relevantes“ gespielt habe, wie die Polizei gegenüber dem MDR bestätigte. [8]

Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/342915.80-jahre-pogromnacht-braune-st%C3%B6rversuche.html

[2] https://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/Reichspogromnacht-1938-Kurze-Zusammenfassung-der-Ereignisse-id43143756.html

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Novemberpogrome_1938

[4] https://www.lpb-bw.de/reichspogromnacht.html

[5] http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/68670/9-november-1938-08-11-2011

[6] http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/68670/9-november-1938-08-11-2011

[7] http://www.belltower.news/artikel/wir-muessen-uns-erinnern-auch-wenn-das-schwer-zu-ertragen-ist-14425

[8] https://www.jungewelt.de/artikel/342915.80-jahre-pogromnacht-braune-st%C3%B6rversuche.html