Ian Kershaws „Höllensturz“: Ein Buch über das zerrissene Europa 1914 bis 1949

Der erste Band des zweiteiligen Projekts zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert des renomierten Historikers Ian Kershaw ist kürzlich veröffentlicht worden und hat für einige Furore gesorgt. Welche Ursachen sieht er für die beiden Weltkriege, die in Großbritanien – anders als in Deutschland – als „zweiten dreißigjährigen Krieg“, also als eine die historisch und gesellschaftwissenschaftlich eng miteinander verwobene Einheit gesehen wird?

Ian Kershaw gilt als einer der renommiertesten Deutschlandkenner und ist vor allem durch seine Hitler-Biografie international bekannt geworden. Nun hat er sich die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert vorgenommen. „Höllensturz“ heißt der erste Band des neuen, zwei Bände umfassenden Werkes, in dem er vor Selbstzerstörungskräften warnt, die auch heute wieder am Werk sind. [1]

Die Geschichte der Länder Europas im zwanzigsten Jahrhundert ist denkbar unterschiedlich verlaufen, und auch die Erfahrungen der Menschen waren von Land zu Land verschieden. Der Kontinent war vor allem durch seine Vielfalt gekennzeichnet und ist es noch. Gibt es unter diesen Voraussetzungen überhaupt so etwas wie eine europäische Geschichte? Kann man als Einheit erzählen, was sich vor allem durch Vielheit auszeichnet? Man kann, Ian Kershawführt es auf ebenso eindrückliche wie elegante Weise vor. [2]

Was der renommierte britische Historiker mit seinem Buch über Europa zwischen 1914 und 1949 vorgelegt hat, ist selbstverständlich nicht als Blaupause für unsere heutige Zeit zu verstehen. Dieses glänzend geschriebene Geschichtswerk zeichnet die Gründe nach, wieso ein ganzer Kontinent zur Halbzeit des Jahrhunderts in Trümmern lag. Kershaw erklärt, warum die europäischen Staaten trotz gemeinsamer politischer und wirtschaftlicher Interessen nicht in der Lage waren, diese Gemeinsamkeiten in Politik umzusetzen. Anhand dieser Gründe lassen sich durchaus Parallelen zu den Krisen finden, die heute Europa erschüttern. [3]

Aus vier Faktoren braute sich dann eine neue Katastrophe zusammen: die rasante Ausbreitung eines ethnisch-rassistischen Nationalismus, die territorialen Revisionsforderungen, ein akuter Klassenkonflikt und die Krise des Kapitalismus als Folge des Ersten Weltkriegs. „Die Verschmelzung der vier Elemente schuf eine dramatische Radikalisierung der Politik in vielen Ländern, insbesondere in Deutschland.“ [4]

Das Erbe des Ersten Weltkriegs machte einen weiteren großen Krieg in Europa eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich. Weil sich die Demokratie in den Verliererländern des Ersten Weltkriegs nicht durchsetzen konnte und der Drang in Deutschland zur Revanche so breite Unterstützung fand, kam es zum „Höllensturz“. [5]

Begünstigt wurde das mehrfache Desaster Europas laut Kershaw durch Territorialforderungen, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Wunsch nach einem ethnisch homogenen Staatsgebilde begründet wurden. Und zum letzten bestand nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Völkerbund zwar eine supranationale Friedensorganisation, die bewaffnete Konflikte unmöglich machen sollte. Allein, dieses Konstrukt versagte angesichts revisionistischer Vorstellungen vollständig. Eine gemeinsame Friedensordnung in Europa aber gab es nicht. [6]

In der Beurteilung der umstrittenen Appeasementpolitik des britischen Premiers Chamberlain, zur Wahrung des Friedens in Europa Hitler die Annexion des tschechischen Sudetenlandes zuzugestehen, kommt der Autor zu dem Ergebnis: Chamberlain hätte keine andere Möglichkeit gehabt. Das britische Empire sei bei weitem nicht kriegsbereit gewesen, erst recht angesichts seiner kolonialen Schutzverpflichtungen in Indien und Nordafrika. [7]

Kershaw erwähnt durchaus die US-Kreditpakete von Charles Dawes (1924) und Owen Young (1929) für den deutschen Staat und deutsche Unternehmen. US-Konzerne wie Ford, GM und General Electric investierten in Europa und wollten »reiche Beute machen«. Deshalb habe die in den USA ausgelöste Weltwirtschaftskrise verheerende Folgen auch in Europa gehabt. Trotzdem hält Kershaw klischeemäßig am »Isolationismus« der USA fest. [8]

Damit liegt das Hauptaugenmerk Kershaws auf den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in Gesamteuropa; er verteilt die sich ständig verschiebenden Akzente auf buchstäblich alle Schultern und macht damit klar, wie labil die Gesamtlage in Europa in den Kriegszeiten und der Zwischenkriegszeit mit Nationalismus, territorialen Ansprüchen und Klassenkampf war. Eine Geschichtserzählung im bester angelsächsischer Tradition. [9]

Kershaw, dessen Monografien über Hitler und den Nationalsozialismus zu Standardwerken geworden sind, verweist in seinem neuen Buch auf weitere Gründe für die Selbstzerstörung Europas. Er diagnostiziert einen akuten Klassenkonflikt, verbunden mit dem Entstehen der Sowjetunion, und er untersucht die lang anhaltende Krise des Kapitalismus, die viele Menschen immer mehr verarmen ließ. Vor allem aber fasziniert Kershaws europäische Herangehensweise, in der er die Gründe dafür analysiert, warum in manchen Staaten demokratische Grundprinzipien erhalten blieben und sich extremer Nationalismus nicht durchsetzen konnte – wie etwa in Skandinavien und Großbritannien –, während für andere Länder Demokratie nur eine Episode blieb und diese zugleich aggressiv Grenzverschiebung verlangten. [10]

Vor mehr als 70 Jahren hat der linksliberale Publizist Leopold Schwarzschild mit seinem Buch „Von Krieg zu Krieg“ schon einmal den Versuch gemacht, die europäische Katastrophe anhand des Fehlverhaltens der europäischen Mächte zu analysieren. Er fand in Deutschland den Hauptschuldigen. Das Buch erschien 1942 im Exil, es ist längst vergessen. Kershaw gebührt das Verdienst, diesen Blickwinkel auf eine europäische Dimension mit dem Abstand eines Historikers für das Publikum des 21. Jahrhunderts zu weiten. [11]

Fußnoten:

[1] http://www.mdr.de/kultur/empfehlungen/ian-kershaw-hoellensturz-102.html

[2] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/neues-buch-hoellensturz-von-ian-kershaw-erschienen-14479834.html

[3] https://www.taz.de/Geschichtsbuch-von-Ian-Kershaw/!5346728/

[4] http://hessenschau.de/kultur/buchmesse/buecher-autoren/ian-kershaw-ueber-sein-werk-hoellensturz,kershaw-hoellensturz-100.html

[5] http://hessenschau.de/kultur/buchmesse/buecher-autoren/ian-kershaw-ueber-sein-werk-hoellensturz,kershaw-hoellensturz-100.html

[6] https://www.taz.de/Geschichtsbuch-von-Ian-Kershaw/!5346728/

[7] http://www.deutschlandradiokultur.de/ian-kershaw-hoellensturz-wenn-die-geschichte-anders.950.de.html?dram:article_id=366803

[8] http://www.jungewelt.de/2016/10-17/058.php?sstr=h%C3%B6llensturz

[9] http://www.ndr.de/kultur/buch/Sachbuecher-des-Monats-Oktober-2016,sachbuchoktober124.html

[10] https://www.taz.de/Geschichtsbuch-von-Ian-Kershaw/!5346728/

[11] https://www.taz.de/Geschichtsbuch-von-Ian-Kershaw/!5346728/