Polizei knüppelt in Kassel Querdenkern Weg für illegalen Aufmarsch frei

Mehrere tausend Querdenker:innen marschierten am Wochenende durch Kassel, obwohl ihre Großaufzüge im Vorfeld untersagt wurden. Die Polizei ließ sie weitestgehend gewähren und prügelte stattdessen auf friedliche Gegendemonstrant:innen ein, deren Versammlungen genehmigt waren. Die Polizei machte sich wieder einmal zum Instrument eines antifreiheitlichen Mobs – oder gehört sie längst dazu?

Von Franziska Wilke, Janin Krude und Marko Neumann

Bei einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Kassel ist es am Samstag zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen. Mehr als 20.000 Menschen nahmen laut Polizei an den Protesten teil. Viele Teilnehmer hielten sich nicht an die Auflage, Mund- und Nasenschutz zu tragen. Obwohl nur zwei Versammlungen an der Peripherie unter strengen Auflagen und geringerer Teilnehmerzahl erlaubt waren, zogen die Teilnehmer auch durch die Innenstadt. Dort war eigentlich nur Gegenprotest zugelassen. [1]

Gerichte und Polizei ebnen rechtsextremen Querdenkern den Weg

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hatte am Freitagabend entschieden, dass aufgrund der hohen Corona-Infektionszahlen die „Querdenker“ nicht wie ursprünglich geplant im Staatspark Karlsaue aufmarschieren dürfen. Für dort waren allein 17.000 Teilnehmer angemeldet worden. Der Verwaltungsgerichtshof erlaubte lediglich 5.000 auf dem Messegelände „Schwanenwiese“ und 1.000 weitere auf dem Platz der Deutschen Einheit, die dort laut Polizei weitgehend friedlich demonstrierten. [2] Die Polizei war am Samstag mit einem Großaufgebot im Kasseler Stadtgebiet präsent, versuchte aber kaum, die gerichtlich festgelegten Auflagen durchzusetzen. Bei den nicht genehmigten Umzügen um den Stadtkern hielt sie sich zurück. Vereinzelt kam es laut Einsatzkräften bei Zusammenstößen mit „Querdenkern“ und Gegendemonstranten zum Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray. [3] „Eine konsequente Verhinderung des Entstehens von Ansammlungen oder ein konsequentes Auflösen verbotener Versammlungen hätte nach Einschätzung der Polizei zur Anwendung von Zwangsmitteln und damit einhergehend zu einer nicht unerheblichen Anzahl an Verletzten auf allen Seiten geführt“, verteidigten die Beamten am späten Samstagabend ihr Einsatzkonzept. [4]

Unfähig oder ungewollt? Polizeieinsatz in der Kritik

Nach den Geschehnissen in Kassel entlädt sich in der Politik erneut viel Empörung über das verantwortungslose Verhalten der Demonstrationsteilnehmer. Zunehmend richtet sich die Kritik auch gegen die polizeiliche Einsatzstrategie. „Das war nicht die erste ‚Querdenker‘-Demo in Deutschland. Inzwischen sollte die Polizei taugliche Einsatzkonzepte zur Bewältigung solcher Lagen entwickelt haben, und danach sieht der Polizeieinsatz in Kassel, ohne Informationen für eine abschließende Bewertung zu haben, nun wirklich nicht aus“, sagte Irene Mihalic, innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, WELT. Einsatzkräfte seien teilweise gegen friedliche Gegendemonstranten vorgegangen, „während die in dieser Form unerlaubte ‚Querdenker‘-Demo unbehelligt blieb, ihr Anwachsen auf 20.000 Personen nicht unterbunden wurde und man die Auflagen nicht durchgesetzt hat. Das muss jetzt gründlich aufgeklärt werden.“ [5]

Kritisiert wird vor allem die entschlossene Räumung von friedlichen Fahrradblockaden am Lutherplatz. Mit Masken und Abstand hatten sich Aktivisten dem verbotenen Demozug der Querdenker entgegengestellt, die auf das Tragen von Masken oder Abstand halten verzichtet haben. „Warum greift ihr friedliche Bürger wie mich an und demoliert mutwillig mein Fahrrad, anstatt den verbotenen Querdenker-Aufmarsch zu stoppen“, fragt Heike Jablonski die Polizei auf Twitter. Auf Internet-Videos ist zu sehen, wie Polizei-Beamte Fahrräder wegreißen, auf Demonstranten einschlagen oder sie zu Boden schubsen. Dieser Einsatz wurde von den Querdenkern mit Applaus quittiert. [6]

Und obwohl der Schock von Berlin jetzt bereits mehr als ein halbes Jahr her ist, als Coronaleugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten versuchten, das Reichstagsgebäude zu stürmen, wirkt der Rechtsstaat immer noch überfordert. [7] Keine überregionale Polizei-Strategie, offenbar kaum nachrichtendienstliche Aufklärung vor den Demonstrationen, keine systematische Beobachtung durch den Verfassungsschutz. [8] Auf dem Blog „Grundgesetz Ultras“ wurde am Montag ein Polizist zitiert, der eine „chaotische“ Einsatzplanung beklagte. Es habe von Beginn an zu wenige Beamte gegeben. Auch sollten er und andere erst einschreiten, als die Lage schon „gekippt“ war. „Schadensbegrenzung war das einzige, was wir noch betreiben konnten.“ [9] Offensichtlich wiederholt sich der Fehler, den die Sicherheitsbehörden bei den Reichsbürgern gemacht haben. Die Szene wurde erst 2016 bundesweit vom Verfassungsschutz in den Blick genommen. Da waren bereits die ersten Schüsse gefallen. [10]

Nach links knüppeln und nach rechts schützen

Die Ereignisse in Kassel zeigen erneut, dass „Querdenken“ die gefährliche Radikalisierung einer Protestbewegung ist, die vor dem Schulterschluss mit Rechten keinen Halt macht. Wenn wir an Bilder wie den Sturm auf das US-Kapitol denken, müssen wir sehen: Auch hier gibt es eine Bewegung, die immer mächtiger wird, während der Staat zunehmend machtlos zusieht. [11] Wer linker Meinung ist, dem wird gegen den Kopf getreten oder der aufs Fahrrad geschlagen. „Jana aus Kassel“ weinte im November 2020 in Hannover, weil sie so allein im „Widerstand“ sei. Seit Sonnabend weiß sie: Sie hat viele uniformierte Beschützer. [12]

Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/querdenker-demo-in-kassel-eskaliert-der-demonstrierende.1013.de.html?dram:article_id=494470

[2] https://rp-online.de/panorama/coronavirus/corona-demo-kassel-20000-demonstrieren-gegen-pandemie-massnahmen_aid-56914303

[3] https://www.hessenschau.de/gesellschaft/fragwuerdiger-polizeieinsatz-bei-querdenker-demo-in-kassel,kassel-demo-reax-100.html

[4] https://www.hessenschau.de/gesellschaft/fragwuerdiger-polizeieinsatz-bei-querdenker-demo-in-kassel,kassel-demo-reax-100.html

[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article228844327/Querdenker-Demo-in-Kassel-Wie-Corona-Leugner-die-Staatsmacht-vorfuehren.html

[6] https://www.rtl.de/cms/kassel-kritik-an-polizeieinsatz-bei-querdenker-demo-reisst-nicht-ab-4727482.html

[7] https://www.tagesspiegel.de/politik/coronaleugner-sorgen-fuer-chaos-in-kassel-der-staat-muss-gegen-die-querdenker-endlich-haerte-zeigen/27025560.html

[8] https://www.tagesspiegel.de/politik/coronaleugner-sorgen-fuer-chaos-in-kassel-der-staat-muss-gegen-die-querdenker-endlich-haerte-zeigen/27025560.html

[9] https://taz.de/Kritik-in-Polizei-an-Kassel-Einsatz/!5756896/

[10] https://www.tagesspiegel.de/politik/coronaleugner-sorgen-fuer-chaos-in-kassel-der-staat-muss-gegen-die-querdenker-endlich-haerte-zeigen/27025560.html

[11] https://taz.de/Eskalation-bei-Querdenken-in-Kassel/!5756907/

[12] https://www.jungewelt.de/artikel/399044.rabiates-aus-kassel.html