Rechtsextremer Mob zieht erneut durch Chemnitz: Polizei lässt Nazis gewähren

Nach den Ausschreitungen gegen vermeintliche Ausländer vergangene Woche in Chemnitz versammelten sich am Montag wieder mehrere tausend Rechte in der sächsischen Stadt. Das Bündnis Chemnitz Nazifrei und weitere zivilgesellschaftliche Initiativen riefen zu Protesten gegen den Aufmarsch rechtsextremer Hooligans, Pegida-Fans und AfD-Sympathisant*innen auf. Während der rechte Mob Hitler-Grüße zeigte, Journalist*innen angriff und unverhohlen Morddrohungen gegen den politische Gegner*innen aussprach, war die Polizei weitgehend überfordert. Sie ließ die Nazis größtenteils gewähren. Es kam zu mindestens sechs Verletzten.

Von Franziska Wilke, Marko Neumann und Julian Feller

Eine Messerstecherei in der Nacht zum Sonntag am Rande des Stadtfestes war extrem rechten Gruppen willkommener Anlass für die Machtdemonstration auf Chemnitz’ Straßen. Ein 35jähriger war im Krankenhaus verstorben, zwei weitere Anwesende wurden verletzt. In den Konflikt waren nach ersten Ermittlungen der Polizei etwa zehn Menschen verwickelt. Der genaue Tathergang und die Hintergründe sind noch nicht bekannt. Nach Informationen der Leipziger Volkszeitung hatten alle drei Opfer „Migrationshintergrund“. Der Tote sei Deutschkubaner gewesen, die beiden Verletzten seien Russlanddeutsche. [1]

Es schien, als hätten die Veranstalter von „Pro Chemnitz“ und ihre vernebelten Spießgesellen aus der ganzen Bundesrepublik nur auf den Anlass einer mutmaßlich durch Migranten begangenen Mordtat gewartet, um wieder einmal loszuschlagen. Nicht nur gegen die verhassten Ausländer, auch gegen alles, was noch ein Gewissen hat, anders ist und ihnen nicht passt. Eine Pietätlosigkeit gegenüber dem getöteten Deutschkubaner, der hier nur benutzt wurde. Die Beschäftigung mit seiner Person hätte ja auch offenbart, dass er eben kein Biodeutscher war und sich von rechten Umtrieben eher distanzierte. [2]

Allein an der von Rechten getragenen Kundgebung beteiligten sich nach Schätzungen weit mehr als 2000 Menschen. Auf der anderen Seite der viel befahrenen Hauptstraße hatten sich mehr als 1000 Gegendemonstranten zusammengefunden. [3]

Auch das Bündnis Chemnitz Nazifrei rief für Montagabend zu einer Kundgebung auf – um sichtbar gegen die Rechtsextremen Stellung zu beziehen. Diverse antifaschistische Gruppen aus Chemnitz, aber auch aus Leipzig und Dresden riefen dazu auf, sich den Rechtsextremen in den Weg zu stellen, damit Szenen wie in Rostock-Lichtenhagen 1992 sich nicht in Chemnitz wiederholen könnten – und der rechte Mob ohne Kontrolle durch die Straßen zieht und Jagd auf MigrantInnen macht. [4]

„Die Jagdszenen auf Menschen, die nach Ausländern aussehen, machen uns Angst“, sagte der Chemnitzer Vorsitzende der Linken Tim Detzner am Nachmittag bei einer Kundgebung vor der Stadthalle: „Wir wollen zeigen, dass Chemnitz ein anderes Gesicht hat: weltoffen und gegen Fremdenfeindlichkeit.“ Auch der Rapper Casper und die Rockband Kraftklub hatten bereits im Vorfeld für die Gegendemonstration geworben. [5]

Die Polizei beschrieb die Stimmung in Teilen der Versammlung zuvor als „zunehmend aggressiv“. Die Beamten hätten daher ihre Schutzhelme aufsetzen müssen. Es gebe Hinweise auf mehrere Hitlergrüße aus der Versammlung „Pro Chemnitz“. Den möglichen Verstößen werde nachgegangen. [6]

Die Polizei gestand ein, überwältigt worden zu sein, kündigte am Montag jedoch an: „Wir sind auf die Einsatzlage heute Abend gut vorbereitet.“ Man habe ausreichend Einsatzkräfte angefordert. Das entpuppte sich als Fehleinschätzung. Am Montagabend forderten Tausende rechte Demonstranten ein ausländerfreies Deutschland. Sie schmissen Steine und Feuerwerkskörper und skandierten ebenso verfassungs- wie ausländerfeindliche Parolen, ohne dass die Polizei einschritt. [7]

Vor den Kundgebungen und Demonstrationen in Chemnitz hatten Politiker zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. „Ich kann uns alle nur bitten, besonnen und ruhig zu bleiben, Ermittlungsergebnisse abzuwarten und dann entsprechende Konsequenzen zu ziehen“, sagte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU). Er bezeichnete die Geschehnisse vom Sonntag als „neue Dimension der Eskalation“. Man werde Gewaltbereiten und Chaoten nicht die Straße überlassen, sondern den Rechtsstaat durchsetzen, sagte Wöller in Chemnitz. Sachsens stellvertretender Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) sagte, Selbstjustiz, Mutmaßungen und Gerüchtemacherei seien nach der tödlichen Attacke fehl am Platz. Das Gewaltmonopol liege beim Staat. [8]

Angesichts der jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz hat die Amadeu Antonio Stiftung zunehmende Aggression und Gewaltbereitschaft gegen Zuwanderer beklagt. „Der Rassismus bricht sich unverhohlen Bahn“, sagte der Experte für Rechtsextremismus der Stiftung, Robert Lüdecke, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Die Gesellschaft ist stark polarisiert, Menschen äußern immer unverhohlener, welche Menschen sie in Deutschland haben möchten und welche nicht.“ In den sozialen Netzwerken werde ungehemmt gehetzt und viele, die sich dort entsprechend äußerten, wähnten sich „einer gefühlten Mehrheit“ zugehörig, meinte Lüdecke. [9]

Gerade die rechtsextreme Szene ist aus Sicht von Stiftungs-Experte Lüdecke sehr gut vernetzt. „Sie haben inzwischen leider auch jahrelange Erfahrungen, wie sie schnell mobilisieren können.“ Soziale Netzwerke spielten dabei eine entscheidende Rolle, „um auch über den eigenen Dunstkreis hinaus Mitstreiter für Demonstrationen und andere Aktionen zu finden“. In Chemnitz gebe es eine organisierte rechtsextreme Szene und „das klassische Pegida-Mitläufertum“, unterstützt durch die Hooligan-Szene. [10]

Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/338694.sachsen-brauner-terror-in-chemnitz.html

[2] http://taz.de/Kommentar-Ausschreitungen-in-Chemnitz/!5532055/

[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/article181331492/Chemnitz-Polizei-meldet-mehrere-Verletzte-bei-Kundgebungen.html

[4] http://taz.de/Rechte-Aufmaersche-in-Chemnitz/!5528188/

[5] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/chemnitz-linke-demonstranten-und-rechte-szene-gehen-auf-die-strasse-a-1225220.html

[6] https://www.welt.de/politik/deutschland/article181331492/Chemnitz-Polizei-meldet-mehrere-Verletzte-bei-Kundgebungen.html

[7] https://www.vice.com/de/article/mb4ygq/wie-die-polizei-in-chemnitz-rechtsextreme-aufmarschieren-liess

[8] https://www.dw.com/de/stimmung-in-chemnitz-bleibt-hochagressiv/a-45249341

[9] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1098723.krawalle-in-chemnitz-in-sachsen-wird-rassismus-verharmlost.html

[10] http://taz.de/Ausschreitungen-in-Chemnitz/!5532054/