Das Türkei-Referendum: Der Pyrrhussieg des Recep Tayyip Erdoğan

Menschenrechte im Ausnahmezustand: Stoppt Erdoğan! Quelle: pantifarheinpfalz.blogsport.eu

 

Denkbar knapp fiel das vom türkisch Präsidenten Erdoğan angestrebte Referendum für ihn aus. Nicht einmal 52 Prozent der Wahlberechtigten stimmten mit „evet“ – „Ja“, für den Umbau der türkischen Demokratie zu einem autokratischen Präsidialsystem. Während der Wahl kam es zu Unregelmäßigkeiten. Die Frage lautet: wie geht es weiter mit der Türkei? Denn das Referendum hat die Zukunft des Landes ungewisser gemacht.

Von Franziska Wilke, Philipp Gutrun-Hahn und Marko Neumann

Als vor gut zehn Jahren Ideologen der AKP erstmals davon sprachen, dass die 1923 gegründete säkulare türkische Republik nichts anderes sei als ein Betriebsunfall der Geschichte, der möglichst bald korrigiert werden müsse, schüttelten viele noch den Kopf angesichts solch irrer Phantasien einiger islamischer Fanatiker. Gestern Nacht ist diese Vision Realität geworden. [1]

Etwa 51,3 Prozent der Bürger – soweit das vorläufige Ergebnis der Wahlkommission – stimmten mit Evet: Ja zu einem Präsidialsystem, ja für deutlich mehr Macht für den Staatschef. Die türkische Wahlkommission erklärt am späten Sonntagabend das Ja-Lager zum Wahlsieger. Es ist nicht der klare Sieg, den Erdoğan sich erwartet hatte. Schon während der Auszählungen wurden Stimmen laut, wonach es Wahlmanipulationen gegeben habe. Doch noch bevor die Wahlkommission ihr offizielles Ergebnis verkündete, riefen sich Erdoğan und sein Premier Binali Yıldırım schon zum Sieger aus. [2]

Die Opposition warnte eindringlich vor einer Ein-Mann-Herrschaft, hatte aber wenig Möglichkeiten gegen eine „Ja“-Kampagne, die mit beispiellosem Aufwand und dem Einsatz staatlicher Ressourcen einen erdrückenden Wahlkampf im geltenden Ausnahmezustand führte. [3]

Schon bisher gab es in der Türkei keine Institutionen mehr, die stark genug wären, Erdoğan aufzuhalten. Justiz, Polizei und Behörden hat er gesäubert, kritische Medien geschlossen, Journalisten und Oppositionelle einsperren lassen. Das Regime hat systematisch jene Institutionen geschleift, die in demokratischen Staaten dafür da sind, Machtmissbrauch zu verhindern. [4]

Vielmehr geht die gültige Verfassung, die den Schutz des Staates und nicht die Rechte des Bürgers in den Mittelpunkt stellt, direkt auf die Putschjunta vom 12. September 1980 zurück. Die während ihrer fast 15jährigen Regierungszeit mit dem Staat verschmolzene Partei AKP verstand es schnell, das anfänglich verbal noch kritisierte autoritäre Erbe der Militärdiktatur für die eigene Herrschaftssicherung zu nutzen: von der Zehnprozenthürde bei Parlamentswahlen über Einschränkungen gewerkschaftlicher Freiheiten bis zur Rundfunkzensurbehörde. Die relative Unabhängigkeit der Justiz wurde bereits 2010 durch ein damals auch von Liberalen und der Gülen-Bewegung unterstütztes Verfassungsreferendum abgeschafft. [5]

Deshalb ist das vorläufige Ergebnis für das Nein-Lager zwar eine knappe Niederlage, aber zugleich eine handfeste Überraschung. Inzwischen haben sich Istanbul und die Hauptstadt Ankara, die beiden größten und wichtigsten Metropolen des Landes, erstmals nach fast 15-jährigen Vormachtstellung Erdogans gegen ihn ausgesprochen, mit jeweils rund 51 Prozent Nein-Stimmen – ein Ergebnis auch der sehr hohen Wahlbeteiligung von mehr als 85 Prozent. Mit der Ägäismetropole Izmir, wo das Nein fast 70 Prozent holte, haben die drei bedeutendsten Städte des Landes ebenso wie die liberalen westlichen Küstenregionen gegen die Verfassungsreform gestimmt. [6]

Unregelmäßigkeiten bei Abstimmung: Stimmzettel ohne Wahlstempel und andere Merkwürdigkeiten

Zahlreiche Wähler hatten sich beschwert, dass ihnen Stimmzettel und Umschläge ohne den offiziellen Stempel ausgeteilt worden seien. Normalerweise werden die Wahlzettel von der Kommission gestempelt, um sicherzustellen, dass keine Zettel oder Umschläge von außen verwendet werden. [7]

Noch während der laufenden Abstimmung am Sonntag erklärte die Wahlkommission dann auf ihrer Website, dass nun auch Wahlzettel ohne Stempel als gültig gewertet würden – solange nicht bewiesen sei, dass sie von außerhalb in die Wahlkabinen gebracht worden seien. [8]

Der Vizechef der Oppositionspartei CHP, Bülent Tezcan, warf im Sender CNN-Türk der Hohen Wahlkommission (YSK) vor, gegen die Regeln verstoßen zu haben, als sie nicht offiziell zugelassene Stimmzettel als gültig akzeptierte. Ein anderer CHP-Vize, Erdal Aksunger, erklärte seinerseits, die Partei erwäge bis zu 60 Prozent der Stimmzettel anzufechten. [9]

Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Toprak, bezeichnete das Ergebnis deshalb auch als »Farce«. Der »Huffington Post« sagte er, der nationale Wahlausschuss habe »eine Freigabe für nicht-gestempelte Wahlzettel und nicht versiegelte Wahlurnen erteilt«.

[10]

Die prokurdische HDP erklärte am Sonntagabend auf Twitter, sie werde eine Neuauszählung der Stimmen aus zwei Dritteln der Urnen verlangen. Es gebe Hinweise auf eine „Manipulation der Abstimmung in Höhe von drei bis vier Prozentpunkte“. [11]

Ungereimtheiten zeigten sich auch bei der laufenden Auszählung. So kamen die Zahlen über weite Strecken von der Erdogan-nahen Nachrichtenagentur Anadolu, andere Medien beriefen sich darauf. Die oberste Wahlbehörde veröffentlichte zu diesem Zeitpunkt andere Zahlen mit einem weit geringeren Auszählungsstand. [12]

Deutsch-Türken feiern Sieg Erdogans

Noch bevor ein offizielles Endergebnis bekannt wurde, waren am Sonntagabend Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Hessen auf die Straße gegangen, um ihren Sieg beim türkischen Verfassungsreferendum zu feiern. In Hanau kamen laut Polizei etwa 250 Menschen auf dem Marktplatz zusammen. [13]

In Deutschland lag die Zustimmung insgesamt bei knapp 63 Prozent und damit noch deutlicher als in Frankfurt über dem vorläufigen Gesamtergebnis, das die Wahlkommission in Ankara nach Auszählung fast aller Stimmen bekanntgegeben hatte (51,3 Prozent). [14]

Wie weiter mit der Türkei?

Die Bevölkerung wird weiter gegeneinander aufgebracht. Auffällig waren die Schlagzeilen der regierungsnahen Medien, wie diese hier von der Tageszeitung Yeni Akit: “Die Republik ist Geschichte! Wir werden sie in Ankara neben Atatürk begraben“. Die Verfechter mögen sich derzeit in Sicherheit wiegen, doch die Unruhe der „anderen“ 50 Prozent der Bevölkerung wird es ihnen nicht leicht machen. [15]

Gefährlich aber ist es nun vor allem für die verhafteten Abgeordneten und JournalistInnen. Um an seine Ziele zu gelangen, wird Erdoğan möglicherweise noch härter gegen Opposition und Presse vorgehen. [16]

Umso mehr brauchen die Oppositionsparteien den Rückhalt aus der EU, nicht zuletzt von der EU-Führungsmacht Deutschland, wenn sie den 16. April nicht als Anlass zur Kapitulation, sondern Anstoß für eine demokratische Wende deuten. Wird jedoch der Türkei in Brüssel ein Kandidaten-Status endgültig aberkannt, hat Präsident Erdoğan, was er wollte: die Abkehr von Europa und die Hinwendung zu einer Region, in der religiöse Staatlichkeit im Namen des Islam hoch im Kurs steht und als zeitgemäße Antwort auf die säkulare Versuchung gilt. [17]

Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) hat sich zurückhaltend zum Ausgang des Verfassungsreferendums in der Türkei geäußert. Die Bundesregierung werde das „in einer freien und demokratischen Wahl“ zustande gekommene Ergebnis akzeptieren, sagte Altmaier am Sonntagabend in der ARD. Ob die Wahl fair verlaufen sei, würden unter anderem die Berichte der Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats zeigen. [18]

Auf die westliche Staatengemeinschaft, auf Europa, kommen nun harte Zeiten zu. Es gilt, dem türkischen Machthaber nicht sofort den Stuhl vor die Tür zu setzen. Die Beitrittsgespräche der Türkei zur EU jetzt abzubrechen würde weiteres Öl ins Feuer des Machthabers in Ankara gießen und ihm Anlass zu noch härterer Abschottungspolitik bieten. Das Modell Europa basiert auf dem Prinzip von Verhandlungen und nicht Konfrontation. Das gilt im Inneren und sollte auch das Verhältnis mit den Nachbarn prägen, die den Weg nach Europa suchen. Auch, wenn dieser nicht geradlinig verläuft. [19]

Für Brüssel und Berlin heißt es jetzt auf jeden Fall: Kluge Botschaften in Richtung Ankara senden. Insbesondere an die Hälfte der Türken, die sich dem Druck ihres Staatsführers nicht gebeugt haben. Ihnen, der Zivilgesellschaft, Unterstützung zu signalisieren, dass entspräche dem europäischen Gedanken am meisten. [20]

Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/!5401257/

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/referendum-in-der-tuerkei-warum-die-tuerken-erdoan-noch-maechtiger-machen-1.3465771

[3] http://www.fr.de/politik/verfassungsreferendum-die-tuerkei-haelt-den-atem-an-a-1261753

[4] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/verfassungsreferendum-tuerkei-recep-tayyip-erdogan-akp-chp

[5] https://www.jungewelt.de/artikel/309011.regime-der-restauration.html

[6] http://www.fr.de/politik/verfassungsreferendum-die-tuerkei-haelt-den-atem-an-a-1261753

[7] http://www.focus.de/politik/ausland/tuerkei-referendum-manipuliert-drei-vorfaelle-am-wahltag-lassen-erdogans-gegner-schaeumen_id_6969650.html

[8] http://www.focus.de/politik/ausland/tuerkei-referendum-manipuliert-drei-vorfaelle-am-wahltag-lassen-erdogans-gegner-schaeumen_id_6969650.html

[9] https://www.welt.de/politik/ausland/article163748460/Opposition-will-Ergebnis-von-Referendum-anfechten.html

[10] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1048200.tuerkische-opposition-wahlbetrug-um-drei-vier-prozent.html

[11] https://www.welt.de/politik/ausland/article163748460/Opposition-will-Ergebnis-von-Referendum-anfechten.html

[12] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1048200.tuerkische-opposition-wahlbetrug-um-drei-vier-prozent.html

[13] http://hessenschau.de/gesellschaft/tuerken-in-frankfurt-stimmen-fuer-erdogans-reform,tuerken-feiern-evet-100.html

[14] http://hessenschau.de/gesellschaft/tuerken-in-frankfurt-stimmen-fuer-erdogans-reform,tuerken-feiern-evet-100.html

[15] http://taz.de/Analyse-zum-Tuerkei-Referendum/!5401272/

[16] http://taz.de/Analyse-zum-Tuerkei-Referendum/!5401272/

[17] https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/sieg-und-niederlage

[18] http://www.suedkurier.de/nachrichten/politik/Schwarzer-Tag-fuer-die-Tuerkei-So-reagieren-deutsche-Politiker-auf-das-Referendum;art410924,9218967

[19] http://www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-nach-dem-referendum-erdogans-sieg-ist-eine-niederlage/19676786.html

[20] http://www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-nach-dem-referendum-erdogans-sieg-ist-eine-niederlage/19676786.html