FDP wird in Thüringen zum Handlanger der AfD

Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich hat sich in Thüringen mit Stimmen der rechtsradikalen AfD und der CDU zum Ministerpräsidenten wählen lassen, um einen linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu verhindern. Dieser Vorgang ist jedoch kein „Versehen“, sondern politisches Kalkül. FDP und CDU machen Faschisten wie Bernd Höcke weiter salonfähig – so wie ihre Vorgängerparteien in der Weimarer Republik die NSDAP.

Von Franziska Wilke und Marko Neumann

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser vermeintliche Coup von FDP und CDU, gemeinsame Sache mit der AfD um den rechtsextremen Björn Höcke zu machen, ist ein Tabubruch, ein Dammbruch, eine Schande. Da hilft auch nicht die allenfalls halbherzige Verteidigung von Christian Lindner, in einer geheimen Wahl habe man nun mal keinen Einfluss auf das Stimmverhalten anderer. [1]

Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich ist zum neuen Thüringer Ministerpräsidenten gewählt worden. Im dritten Wahlgang erhielt Kemmerich am Mittwoch im Erfurter Landtag 45 Stimmen und damit eine Stimme mehr als der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow (LINKE). Damit stimmte die AfD-Fraktion offenbar geschlossen für den FDP-Kandidaten, ihr eigener Bewerber, der parteilose Christoph Kindervater, erhielt keine Stimme. [2]

Der Tabubruch vom Mittwoch hat einen historischen Vorläufer. Schon einmal war den „bürgerlichen“ Parteien in Thüringen ihr fanatischer Kampf gegen alles Linke wichtiger als die Verteidigung demokratischer Grundwerte. Das war 1924, zu Zeiten der kurzlebigen Weimarer Republik. Damals setzte der Thüringer Ordnungsbund – ein Wahlbündnis, dem auch die beiden FDP-Vorgängerparteien DVP und DDP angehörten – ebenfalls mit Erfolg auf eine von völkischen Nationalisten und Nationalsozialisten mitgewählte Minderheitsregierung, um der bis dahin amtierenden linken Koalition den Garaus zu machen. [3]

CDU, FDP und AfD haben einen gemeinsamen Ministerpräsidenten gewählt, und nichts, gar nichts, was die Vertreter von CDU und FDP dazu jetzt an Beschwichtigungen aufsagen können, wird glaubhaft sein. Niemand kann sagen, dass er nicht sehenden Auges in diese Situation gegangen sei. Thomas Kemmerich, der neue Ministerpräsident, nicht. Und Mike Mohring, der CDU-Chef Thüringens, Mitglied im Präsidium dieser Partei, einer der führenden ostdeutschen Unionspolitiker, kann das noch viel weniger von sich behaupten. Die AfD wurde an die Macht taktiert – gewollt, ungewollt, das ist fast egal. Der Fakt bleibt: Mohring hat einen Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD von seiner Fraktion mitwählen lassen. Seine Thüringer CDU hat dafür gesorgt, dass die Schutzschicht zwischen CDU und AfD gerissen ist. Es ist Mohring, der die AfD für die CDU mitwählbar gemacht hat. [4]

Wer unsere Kandidaten in einer geheimen Wahl unterstützt – das liegt nicht in unserer Hand.“ Mit diesem rhetorischen Schulterzucken versuchte FDP-Chef Christian Lindner gerade, seine Partei vor dem Vorwurf zu schützen, sie habe aus Machthunger billigend in kauf genommen, dass einer der Ihren in das Amt des Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wurde. Aber das ist eine faustdicke Lüge. [5]

Woran beide Parteien aber besonders zu leiden haben werden, ist die Tatsache, dass sie den Begriff der Bürgerlichkeit, auf den sie so großen Wert legen, in den Dreck haben ziehen lassen. Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, als die AfD anhand der Ergebnisse eine rechnerische „bürgerliche“ Mehrheit proklamierte, wiesen CDU und FDP das noch empört zurück. Nun haben sie in Thüringen gemeinsam dafür gesorgt, dass sich diese Mehrheit im Parlament manifestierte. Das, was man gemeinhin bürgerliche Tugenden nennt, Anstand, Besonnenheit und die Einhaltung von Regeln, haben sie ersetzt durch Machtgier, Leichtsinn und faule Ausreden. [6]

Erstens: Thomas Kemmerich hätte die Wahl am Mittwoch nicht annehmen müssen. Spätestens als der AfD-Kandidat null Stimmen erhalten hatte, war klar, dass die Rechtsaußen-Abgeordneten für ihn gestimmt haben. Zweitens: Dass so ein Manöver seitens der AfD kommen würde, lag von Anfang im Bereich des Möglichen. Schon nach der Wahl im Oktober waren Überlegungen zu verschiedenen Szenarien nicht abwegig, die auf das gestrige hinausliefen: Man könne in einer geheimen Wahl nicht verhindern, dass die AfD die Kandidaten der CDU (oder wie gestern der FDP) wählen, das würde noch keine Absprachen oder Tolerierung bedeuten. [7]

Der neue Ministerpräsident hielt am Nachmittag eine Rede vor dem Landtag, in dem vor allem die Reihen der Linksfraktion sich weitgehend gelichtet hatten. Unterbrochen von wütenden Zwischenrufen und Hohngelächter von Linken, Grünen und SPD erklärte er, die „Brandmauer gegenüber den Extremen“ bleibe stehen. Dann wurde ein Antrag auf Vertagung der Sitzung mit der Mehrheit von CDU, FDP und AfD angenommen. Zur vorgesehenen Berufung eines Kabinetts kam es nicht. [8]

Hans-Georg Maaßen freut sich. „Die Wahl von Thomas Kemmerich ist ein Riesenerfolg“, sagte der konservative CDU-Mann und Ex-Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz am Mittwoch dem Tagesspiegel. „Ich habe in Thüringen die Wende unterstützt. Hauptsache, die Sozialisten sind weg.“ [9]

Der israelische Botschafter in Deutschland, Jeremy Issacharoff, sprach von einem „gefährlichen Präzedenzfall“, da die Wahl Kemmerichs im Vertrauen auf eine Unterstützung durch die AfD erfolgt sei. Issacharoff lobte dagegen die kritischen Reaktionen aus der deutschen Politik auf den Vorgang in Erfurt. „Das Wissen um die Integrität der führenden deutschen Politiker und die Verurteilungen von MdBs aus dem gesamten politischen Spektrum sind ein positives Zeichen“, sagte er der „Bild“-Zeitung. [10]

Höcke sprach indes von einem „guten Tag für Thüringen. „Wir haben ein Wahlziel gehabt, das wir absolut priorisiert haben“, so Höcke nach der Wahl und das sei gewesen, den bisherigen Ministerpräsidenten Ramelow in den „Ruhestand“ zu schicken. „Unter Rot-Rot-Grün ist Thüringen in einen Linksstaat deformiert worden“, schwadroniert Höcke. [11]

Auch die bundesweite linksradikale Organisation „Interventionistische Linke“ (IL) machte deutlich, was sie von der Wahl Kemmerichs hält. „CDU und FDP in Thüringen Hand in Hand mit Faschisten – so sieht sie aus, die bürgerliche Mitte“, erklärte die Gruppe. Und ergänzte: „Kein Fußbreit, niemals. No Pasaran!“ Emily Laquer, eine Sprecherin der IL, erklärte weiter: „Zur Hölle mit Euch, FDP-Fraktion Thüringen.“ Als „Dammbruch“ bezeichnete auch Stina Rückert von der IL Leipzig die Wahl. Diese Situation dürfe nicht normalisiert werden, so die Aktivistin zu „nd“. Wer diese Entwicklung ernst nehme, müsse sich entschieden dagegenstellen und sich den Protesten heute und in den kommenden Tagen vor FDP- und CDU-Zentralen anschließen. [12]

Der bisherige thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow hat nach der umstrittenen Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD ein Zitat von Adolf Hitler auf Twitter veröffentlicht. „’Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. […] Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen.‘ A. Hitler, 02.02.1930“, schrieb der Linkenpolitiker Ramelow am Mittwochabend auf Twitter. [13]

„Die FDP hat mit dem Feuer gespielt und damit Thüringen und das ganze Land in Brand gesetzt“, hat CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak die Ministerpräsidentenwahl kommentiert. [14]

Offene Rücktrittsforderungen an Kemmerich kamen aus den FDP-Landesverbänden. Der stellvertretende NRW-Ministerpräsident Jochen Stamp (FDP) erklärte: „Ich fordere Thomas Kemmerich auf, mit einem Rücktritt den Weg zu Neuwahlen in Thüringen frei zu machen.“ Es dürfe “eine Zusammenarbeit jedweder Art mit der AfD geben“. Ähnlich äußerte sich Schleswig-Holsteins Vizeministerpräsident Heiner Garg (FDP), der Kemmerich zum „sofortigen Rücktritt“ aufforderte. [15]

„Die gut 59.000 Wähler der Thüringer FDP haben sicher viel gewollt. Aber dass sich der Spitzenkandidat der kleinsten Partei im Landtag mit den Stimmen der AfD zum Regierungschef küren lässt, das haben sie mit Sicherheit nicht gewünscht“, schreibt Die Welt. Die Zeitung meint, Kemmerich sei in Thüringen das „Kunststück“ gelungen „sich vor seinen Wählern so zu verbeugen, dass sie nur noch sein Gesäß sehen“. Seine Wahl sei „ganz offensichtlich das Ergebnis von monatelangem Tricksen und Täuschen“. [16]

Der FDP ist ab jetzt nicht mehr zu trauen. Die Partei von Hans-Dietrich Genscher und Burkhard Hirsch ist runtergerockt zur politischen Spielball der Rechten. [17]

Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/thueringen-ein-tabubruch-ein-dammbruch-eine-schande.720.de.html?dram:article_id=469636

[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-kemmerich-wahl-bodo-ramelow-teilt-gegen-fdp-aus-und-zitiert-adolf-hitler/25510494.html

[3] https://taz.de/Skandalwahl-in-Thueringen/!5662209/

[4] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/thomas-kemmerich-thueringen-wahl-ministerpraesident-fdp-afd

[5] https://taz.de/Thueringen-und-die-FDP/!5658317/

[6] https://www.sueddeutsche.de/politik/thueringen-kemmerich-fdp-cdu-afd-1.4787121

[7] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1132532.nach-der-ministerpraesidentenwahl-in-thueringen-cdu-und-fdp-wussten-um-den-hohen-preis.html

[8] https://www.jungewelt.de/artikel/372026.ramelow-gescheitert-tabubruch-in-erfurt.html

[9] https://www.tagesspiegel.de/berlin/maassen-zur-wahl-von-thomas-kemmerich-hauptsache-die-sozialisten-sind-weg/25511440.html

[10] https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/historischer-tabubruch-gefaehrlicher-praezedenzfall/

[11] https://www.belltower.news/dammbruch-in-thueringen-der-erste-ministerpraesident-durch-die-stimmen-der-afd-95619/

[12] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1132502.ministerpraesident-in-thueringen-ein-pakt-mit-der-faschistischen-afd.html

[13] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/thueringen-bodo-ramelow-zitiert-adolf-hitler-nach-wahl-eklat-a-6d2da145-2d3e-4bcb-82e6-99d32f766fa1

[14] https://taz.de/Skandalwahl-in-Thueringen/!5662209/

[15] https://www.tagesspiegel.de/politik/wahl-in-thueringen-fdp-chef-lindner-will-kemmerich-zum-rueckzug-bewegen/25517258.html

[16] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-02/thueringen-ministerpraesident-fdp-thomas-kemmerich-presseschau

[17] https://taz.de/Thueringen-und-die-FDP/!5658317/