Konzentrationslager Sachsenhausen: Ehemaliger Wärter verurteilt

Massenmord verjährt nicht. Am Dienstag wurde ein 101 jähriger ehemaliger Wärter des Konzentrationslagers Sachsenhaus wegen tausendfacher Beihilfe zum Mord an Häftlingen verurteilt. Der juristische Schuldspruch kam spät.

Von Franziska Wilke und Marko Neumann

Die Beweislage war erdrückend und trotzdem stritt der Angeklagte seine Verantwortung ab. Doch auch wenn Josef S. bis zum Schluss in dem Prozess leugnete, ab 1941 als SS-Wachmann im KZ Sachsenhausen tätig gewesen zu sein, fand ihn das Schwurgericht nun der Beihilfe zum Mord für schuldig. Mit seiner Tätigkeit als Aufseher habe der inzwischen 101-jährige S. das Morden im Lager unterstützt, sagte der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann in der Urteilsbegründung am Dienstag. [1]

«Sie haben drei Jahre lang täglich dabei zugesehen, wie deportierte Menschen dort grausam gequält und ermordet wurden», sagte der Vorsitzende Richter des Landgerichts Neuruppin am Dienstag in seiner Urteilsbegründung. «In Beurteilungen wurde festgestellt, dass sie ein zuverlässiger Wachmann – und damit ein willfähriger Helfer der Täter waren.» [2]

Für den Tatzeitraum von Januar 1942 bis Februar 1945 – mit einer kurzen Unterbrechung – konnten 3.500 Morde zugeordnet werden. Im KZ Sachsenhausen wurden in dem Zeitraum mindestens 400 Menschen in der Gaskammer ermordet. 200 weitere wurden mithilfe einer Genickschussanlage umgebracht. Weitere 2900 starben unter anderem durch lebensfeindliche Bedingungen im Lager ab September 1944. Diese Zahlen der grausamen und heimtückischen Mordtaten sind „vorsichtigste Mindestschätzungen“, merkte Richter Lechtermann an. [3]

Das Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg nördlich von Berlin nahm während der NS-Zeit eine Sonderstellung ein: Es diente seit seiner Fertigstellung 1936 als Modell für weitere KZ, war später Verwaltungszentrale des gesamten KZ-Systems und war außerdem ein Schulungslager der SS. [4]

Die Verteidigung hatte einen Freispruch gefordert. Verteidiger Stefan Waterkamp kündigte daher direkt nach dem Urteil Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) an. Der BGH habe in seiner bisherigen Rechtsprechung die bloße Tätigkeit in einer Wachmannschaft eines KZ als nicht ausreichend für eine Verurteilung wegen Beihilfe zu den NS-Verbrechen gesehen, sagte Waterkamp zur Begründung. Das Urteil ist damit noch nicht rechtskräftig. Der Nebenklage-Vertreter Thomas Walther, der in dem Prozess mehrere Überlebende und Angehörige von NS-Opfern vertrat, zeigte sich nach dem Urteil zufrieden. Entscheidend sei die Feststellung der Schuld durch das Gericht und dass die „unfassbare Grausamkeit“ in diesem KZ zur Sprache gekommen sei. „Sachsenhausen ist geschehen, und Sachsenhausen kann an jedem Ort der Welt immer wieder geschehen“, sagte Walther. „Dagegen etwas zu tun und dem Gedanken zu folgen „Wehret den Anfängen“ – das ist eine Aufgabe, die uns alle trifft.“ [5]

In Deutschland sind in den vergangenen Jahren immer wieder sehr alte Männer wegen einer früheren KZ-Tätigkeit angeklagt worden, nachdem sie zuvor unbehelligt in Deutschland gelebt hatten. Denn bei der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit hatte die deutsche Justiz über Jahrzehnte nur diejenigen verfolgt, die zur Leitung der Konzentrationslager gehört oder selbst gemordet hatten oder durch besondere Grausamkeit aufgefallen waren, sogenannte Exzesstäter. [6]

Seit einigen Jahren ist nicht mehr der Nachweis notwendig, dass der SS-Wachmann eines solchen Lagers persönlich jemanden getötet hat. Wer als Teil einer Vernichtungsmaschinerie arbeitete, deren Ziel der Tod von Millionen Menschen war, kann sich nicht darauf hinausreden, doch nur am Tor gestanden oder Tötungsbefehle abgetippt zu haben. Solche Menschen wissen, was sie tun und wem sie dienen, und ohne sie würden Mordregime und Diktaturen nicht funktionieren. [7]

Fußnoten:

[1] https://www.endstation-rechts.de/news/haft-fuer-kz-waerter-am-rande-der-mittaeterschaft

[2] https://www.zeit.de/news/2022-06/28/prozess-gegen-mutmasslichen-kz-wachmann-urteil-erwartet

[3] https://www.endstation-rechts.de/news/haft-fuer-kz-waerter-am-rande-der-mittaeterschaft

[4] https://www.dw.com/de/fr%C3%BCherer-kz-w%C3%A4chter-mit-100-jahren-vor-gericht/a-59401565

[5] https://www.wetterauer-zeitung.de/politik/vernichtung-unterstuetzt-91636875.html

[6] https://www.blick.ch/ausland/beihilfe-zu-mord-urteil-gegen-ehemaligen-kz-waechter-101-id17614971.html

[7] https://www.sueddeutsche.de/meinung/nationalsozialismus-konzentrationslager-ss-wachmann-neuruppin-verfahren-sachsenhausen-1.5610918