Urteil im NSU-Prozess gesprochen: Mehr Fragen als Antworten

"Kein Vergeben. Kein Vergessen." - Diese postkartengroßen Aufkleber tauchten kurze Zeit vor dem Jahrestag der Ermordung Mehmet Turguts in Rostock auf.

Nach fünf Jahren wurde heute das Urteil im NSU-Prozess gesprochen. Beate Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Die Verstrickungen staatlicher Behörden, wie die Ämter des Verfassungsschutzes, bleiben weiter im Dunkeln. Abschluss des Prozesses darf kein Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Verbrechen des NSU und seiner Mittäter*innen sein.

Von Franziska Wilke, Janin Krude und Nico Burmeister

Es ist ein historisches Urteil: Am Mittwochmorgen verhängte das Oberlandesgericht München teils hohe Haftstrafen für die Terrorserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe muss lebenslänglich in Haft. Die vier Mitangeklagten erhielten Haftstrafen bis zu zehn Jahren. [1]

Seit Mai 2013 wurde an 437 Tagen verhandelt. Die Richter hörten mehr als 600 Zeugen. Mehr als 60 Millionen Euro fielen an Kosten an. Die Verhandlung gegen den NSU ist „nur zu vergleichen mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, den Auschwitzprozessen und den RAF-Verfahren“, schreiben unsere Reporter Annette Ramelsberger und Wiebke Ramm, die seit Jahren im Gerichtssaal dabei sind. [2]

Zwar gibt es keinen Beweis, dass Zschäpe an einem der Tatorte war. Die Anklage hatte ihr allerdings eine maßgebliche Rolle bei der Tarnung des Trios zugeschrieben und argumentiert, Zschäpe habe „alles gewusst, alles mitgetragen und auf ihre eigene Art mitgesteuert und mit bewirkt“. Dieser Argumentation folgte das Gericht in seinem Urteil. [3]

Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben ist als Waffenbeschaffer für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Das Oberlandesgericht München sprach Wohlleben am Mittwoch der Beihilfe zum Mord schuldig. Das Oberlandesgericht München blieb damit hinter der Forderung der Bundesanwaltschaft zurück, die für den als NSU-Helfer Angeklagten zwölf Jahre gefordert hatte. [4]

Das Urteil gegen Zschäpe bildet den Abschluss der staatlichen NSU-„Aufarbeitung“. Die wirklich Verantwortlichen standen hier nie vor Gericht. Der Inlandsgeheimdienst, ohne den es nicht zur Attentatsserie gekommen wäre, ist mächtiger denn je. Die Ideologie des NSU hingegen ist keine absonderliche Meinung von gesellschaftlichen Außenseitern mehr – sie wird von denjenigen, die Asylbewerberheime in Brand stecken und dabei Tote billigend in Kauf nehmen, genauso vertreten wie von Hetzern in Medien und Bundestag, die an der Grenze schießen wollen, um Migranten abzuhalten, oder Flüchtlinge lieber im Mittelmeer ertrinken lassen, als sie zu retten. [5]

Anders als die Generalbundesanwaltschaft gehen die Nebenkläger davon aus, dass der NSU aus weit mehr Personen als dem „Kerntrio“ Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bestanden haben muss, erläuterte Rechtsanwalt Alexander Hoffmann. Die Anklage gegen nur drei Personen sei falsch gewesen. Dadurch seien viele wichtige Fragen immer wieder als nebensächlich zurückgewiesen worden. Dabei gebe es zahlreiche konkrete Hinweise auf weitere Unterstützer an den jeweiligen Tatorten, denen aber nicht ausreichend nachgegangen worden sei. Denn irgendjemand habe die Opfer auswählen und die Tatorte ausspähen müssen. [6]

Den zahlreichen Nebenklageanwältinnen und –anwälten sowie engagierten Journalist*innen und Einzelpersonen ist es zu verdanken, dass Informationen zu rassistischen und antisemitischen Strukturen immer wieder Gegenstand des Prozesses waren. „Die engen Verbindungen zu Neonazi-Netzwerken wie Blood&Honour belegen, dass die Trio-These der Bundesanwaltschaft und des Gerichts nicht haltbar ist“, erklärt Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. „Fehlende Ermittlungen und das Festhalten an der Trio-These führen dazu, dass rechtsextreme und rechtsterroristische Netzwerke gestärkt aus dem NSU-Prozess hervorgehen können. Es muss weiter aufgeklärt werden, wie und warum die Mordopfer ausgewählt wurden, wer Hinweise und Details für die Tatorte lieferte und wie groß der NSU war.“ Es gibt weitere Anschläge und Morde, die in das Tatprofil des NSU passen und bis heute unaufgeklärt sind, wie beispielsweise Recherchen um die so genannte 10.000er Liste des NSU nahelegen. Diesen Spuren muss nachgegangen werden. [7]

Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz das nicht verhindert hätte. Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass die Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat sie vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat verdunkelt, verschleiert, Akten vernichtet. Gäbe es ein Strafrecht für Behörden – dieser Verfassungsschutz verdiente die Höchststrafe: seine Auflösung. Das wäre ein Paukenschlag: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. 1. Der Verfassungsschutz wird aufgelöst. 2. Es wird seine Neuorganisation bis zum 31. 12. 2019 angeordnet.“ Aber so etwas anzuordnen, lag nicht in der Kompetenz des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts. Es wäre dies die Pflicht der Bundes- und der Landesregierungen. Diese haben, im Gegensatz zum Gericht, ihre Aufgaben nicht erfüllt. [8]

In Mecklenburg-Vorpommern soll ein PUA klären, inwieweit auch dortige Ermittler und Sicherheitsbehörden Fehler gemacht haben. Neben dem Mord an Mehmet Turgut werden dem NSU zwei Banküberfälle in Stralsund zugerechnet. Bekannt ist, dass das Trio wiederholt zum Urlaub in Mecklenburg-Vorpommern war. Es gibt Anzeichen, dass der NSU auch dort Helfer hatte. Das Urteil stieß im Nordosten auf Lob, aber auch Kritik. Anwältin Gül Pinar berichtete, dass die Familie des Hamburger Opfers Süleyman Tasköprü erleichtert sei – und zugleich entsetzt darüber, wie milde das Urteil zum Teil gegen einzelne Angeklagte ausgefallen sei. [9]

Der NSU-Prozess machte den Blick auf eine sehr hässliche Seite frei. Er zeigte, dass Rechtsextremismus nicht bloß ein historisches Phänomen, sondern auch eines der Gegenwart ist. Aber obwohl die Ermittlungsbehörden Rechtsextremismus seit dem NSU verstärkt bekämpfen, ist die rechte Gefahr nicht gebannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte auf der NSU-Gedenkfeier gesagt, so etwas dürfe sich nie wiederholen. Es spricht wenig dafür, dass ihre Aussage zur Wahrheit wird. [10]

Fußnoten:

[1] http://taz.de/Urteil-im-NSU-Prozess/!5521706/

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-prozess-zschaepes-verteidiger-kuendigen-revision-an-1.4048066

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/nsu-urteile-lebenslange-haft-fuer-beate-zschaepe-15685433.html

[4] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1093929.urteil-im-nsu-prozess-zschaepe-zu-lebenslanger-haft-verurteilt.html

[5] https://www.jungewelt.de/artikel/335727.nichts-vergeben-nichts-vergessen.html

[6] https://www.jungewelt.de/artikel/335742.gegen-schlussstrichmentalit%C3%A4t.html

[7] http://www.belltower.news/artikel/nsu-prozess-urteil-darf-nicht-ende-von-aufkl%C3%A4rung-und-aufarbeitung-sein-13939

[8] http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-prozess-ein-gerechtes-urteil-und-saecke-voller-fragen-1.4049501

[9] https://www.ndr.de/nachrichten/NSU-Urteil-Lebenslange-Haft-fuer-Beate-Zschaepe,urteilnsu100.html

[10] https://rp-online.de/politik/deutschland/trotz-nsu-prozess-ist-rechte-gefahr-nicht-gebannt-mehr-gewaltbereite-rechtsextreme_aid-23887379